PflegePRAXIS
Was bewegt die Pflege aktuell? – Meinungen und Eindrücke aus unterschiedlichen Perspektiven
Text: Andreas Thiel & Mirjam Lang | Foto (Header): © DC Studio – stock.adobe.com
In der letzten Ausgabe haben wir eine Interviewserie begonnen, in der Studiengänge und Weiterbildungen näher beleuchtet werden. Mit diesem Heft wollen wir eine weitere Serie starten, in der wir Einschätzungen zur momentanen Situation der Pflege aus unterschiedlichen Perspektiven, Professionen und Bereichen abbilden möchten. Wir wollen so versuchen, ein aktuelles Stimmungsbild zu vermitteln. Vielleicht bieten die Interviews aber auch einen Blick über den Tellerrand und ein besseres Verständnis für die Erfahrungen und die damit verbundene Situation der Gesprächspartner aus verschiedenen Bereichen.
Auszug aus:
QM Praxis in der Pflege
Ausgabe Oktober 2024
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Wir beginnen mit Andreas Thiel, der über Erfahrungen als Pflegefachkraft, WBL, Qualitätsmanager, Pflegedienstleitung, Einrichtungsleitung, Fachbereichsleiter und Bereichsleitung ZQM verfügt und aktuell im operativen Management tätig ist.
QMP: Herr Thiel, wie würden Sie den aktuellen Zustand des Pflegesystems in Deutschland aus Ihrer Perspektive beschreiben?
Thiel: Das Pflegesystem in Deutschland steht aktuell vor großen Herausforderungen. Nimmt man sich die Pflegesysteme aus anderen EU-Ländern zum Vergleich, wird aus meiner Sicht deutlich, dass Reformen nötig sind. Der demografische Wandel lässt ein „Weiter-so“ nicht zu.
QMP: Was sind Ihrer Einschätzung nach aktuell die größten Hürden, mit denen die Pflege und Pflegekräfte zu kämpfen haben? Thiel: Wie in fast allen Branchen hat
auch die Pflegebranche mit den Herausforderungen des demografischen Wandels zu kämpfen.
Thiel: Wie in fast allen Branchen hat auch die Pflegebranche mit den Herausforderungen des demografischen Wandels zu kämpfen.
Die Digitalisierung und der Einzug von KI sind ebenfalls Herausforderungen, denen sich die Pflegekräfte künftig stellen müssen. Die schnellen Veränderungsprozesse in der Pflegewelt, aber auch auf globaler Ebene, werden die Branche und damit die Pflegekräfte immer wieder vor neue Herausforderungen stellen.
Allerdings ist jeder Veränderungsprozess auch eine Chance, Organisationen und Prozesse weiterzuentwickeln, zu optimieren und damit ein solides Fundament für zukünftige Herausforderungen zu schaffen.
QMP: Hat sich seit der Corona-Pandemie etwas grundlegend verändert?
Thiel: Grundlegende Veränderungen sind aus meiner Sicht nicht direkt an die Corona-Pandemie gekoppelt. Die Corona-Pandemie war aus meiner Sicht ein Indikator für zahlreiche Veränderungen. Viele Unternehmen aus der Branche haben noch immer mit den negativen finanziellen Nachwirkungen der Corona-Pandemie zu kämpfen.
Das Remote Working und das hybride Arbeiten haben deutlich zugenommen. Im administrativen Bereich wird dieses erfolgreich umgesetzt.
Das Hygienebewusstsein ist aus meiner Sicht deutlich in den Fokus gerückt. Für mich persönlich hat das Thema Gesundheitsprävention erheblich an Stellenwert gewonnen.
QMP: Was hat sich durch die Einführung der Generalistik verändert?
Thiel: Mir persönlich liegt das Thema Ausbildung sehr am Herzen. Ich selbst habe einige Jahre als Praxisanleiter gearbeitet. Diese Funktion war für mich Berufung, welche ich mit sehr viel sozialem und persönlichem Arrangement ausgeübt habe. Dass mit der Generalistik die Ausbildung mehr in den Fokus rückt und von der lernfeldorientierten Arbeitsweise über die Requalifizierung bis zur Freistellung der Praxisanleitung eine verbindliche und einheitliche Regelung vorliegt, lässt mich optimistisch in die Zukunft blicken.
Mit den generalistisch ausgebildeten Pflegefachpersonen kommt eine weitere Berufsgruppe mit einer meist sehr hohen Fachlichkeit in die Teams. Diese hohe Fachlichkeit ist für die zu pflegende Person ein absoluter Mehrwert, aber auch für das Team. Es kann aber das Teamgefüge und das Team als solches vor größere, aber lösbare Herausforderungen stellen.
QMP: Wie würden Sie die aktuellen Arbeitsbedingungen in der Pflege bewerten?
Thiel: Die Arbeitsbedingungen in der Pflege sind von vielen Faktoren abhängig. Es wird immer ein sehr anspruchsvoller Beruf bleiben, in dem Empathie und das Interesse am Menschen eine elementare Rolle spielen. Die Arbeitsbedingungen sind nicht nur von gesetzlichen Vorgaben abhängig, auch die Innovationsfreudigkeit des Arbeitgebers ist hier gefragt: ob die 4-Tagewoche, der verlässliche Dienstplan, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder der Einsatz von modernen Hilfsmitteln und Medizinprodukten. Das alles und noch unzählige andere Faktoren mehr können die Arbeitsbedingungen optimieren. Der Arbeitgeber sollte in der Lage sein, beispielsweise, nach einem Baukastensystem für jeden Standort und für jeden Mitarbeiter die passenden Instrumente zur Optimierung der Arbeitsbedingungen zur Verfügung zu stellen und auf nötige Veränderungen der Arbeitsbedingungen schnell reagieren zu können.
QMP: Was sind aus Ihrer Sicht die häufigsten Gründe für das Verlassen des Berufsfelds?
Thiel: Hier mag es eine Vielzahl von Gründen geben. Aus meiner langjährigen Berufserfahrung heraus kann ich für mich selbst zwei Ursachen identifizieren. Der verlässliche Dienstplan und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind aus meiner Sicht hauptsächliche Gründe.
QMP: Der Gesetzentwurf zum Pflegekompetenzgesetz liegt vor. Inwieweit bringen die neuen Regelungen Erleichterungen für die Pflege mit sich? Wie beurteilen Sie die neuen Vorgaben des Gesetzes?
Thiel: Ich sehe den Gesetzentwurf aus zwei Perspektiven. Die Ausweitung der Kompetenz für Pflegefachpersonen und die Stärkung des kompetenzbasierten Einsatzes der Pflegefachpersonen finde ich grundlegend den richtigen Ansatz. Wer soll wann diese Aufgaben übernehmen? Diese Frage beschäftigt mich, wenn ich mich mit dem Gesetzentwurf zum Pflegekompetenzgesetz im Kontext der Ausweitung der Kompetenzen für Pflegefachpersonen auseinandersetze.
Über das Pflegeberufegesetz § 4 sind die Vorbehaltsaufgaben endlich verbindlich definiert. Durch die neue Personalbemessung nach § 113 im stationären Setting der Langzeitpflege ist der kompetenzbasierte Einsatz der Pflegefachpersonen mit ausreichend Zeit für die Vorbehaltsaufgaben vorgesehen. Dieser zeitliche Freiraum wird durch das Pflegekompetenzgesetz, welches im Entwurf vorliegt, mit neuen Aufgaben durch die Ausweitung der Kompetenzen für Pflegefachpersonen wieder eingekürzt. Es besteht aus meiner Sicht die Gefahr, dass durch die Ausweitung der Kompetenzen für Pflegefachpersonen sich die zeitlichen Ressourcen für die Aufgaben nach dem Pflegeberufegesetz § 4 wieder reduzieren, was möglicherweise zur Unzufriedenheit der Pflegefachpersonen führen kann.
QMP: Kann durch die neue Gesetzgebung Ihrer Ansicht nach tatsächlich Abhilfe geschaffen werden, was den Fachkräftemangel angeht?
Thiel: Mit dem Gesetzentwurf zum Pflegekompetenzgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung getan. Der jetzige Stand der Gesetzgebung reicht aus meiner Sicht nicht aus, um für den bestehenden Fachkräftemangel vollumfänglich Abhilfe zu schaffen. Hier wird auch die Pflegebranche nach Lösungen suchen und ggf. Personalgewinnung, Personalbindung und Arbeitsorganisation neu denken.
QMP: Wie bewerten Sie die Aus- und Weiterbildung in der Pflege? Wie kann Ihrer Meinung nach die Qualität der Ausbildung verbessert werden?
Thiel: Es geht aus meiner Sicht nicht um Verbesserung, sondern vorrangig um die Optimierung. Die Qualität der Ausbildung steht und fällt mit den Rahmenbedingungen im Ausbildungsbetrieb, in den Schulen und mit der Kompetenz des Praxisanleiters/ der Lehrkraft/Pädagogen. Neben der fachlichen Kompetenz sind die sozialen Kompetenzen und eine Grundempathie ein wichtiger Stützpfeiler für die Qualität der Ausbildungen.
Die Ausbildung kann qualitativ nur so gut sein, wie auch der Ausbildungsbetrieb und die Schule qualitativ auf einem hohen Niveau arbeiten.
Die Basis für individuelle Qualifizierungen sind die persönlichen und fachlichen Kompetenzen jedes einzelnen Mitarbeiters. Wir als Unternehmen fördern Talente und fordern bestmögliche Qualität.
QMP: Thema Qualität in der Pflege: Welche Herausforderungen erleben Sie bei der Sicherstellung der Pflegequalität (Stichwort: Standards, Kontrollen, QM)?
Thiel: Wir streben im Unternehmen eine stabile Qualität auf höchstem Niveau an. Die täglichen Herausforderungen zur Sicherstellung der Pflegequalität sind zahlreich. Standards müssen immer wieder zielgruppen- und qualifikationsorientiert implementiert/geschult werden, pflegewissenschaftliche Erkenntnisse verständlich, z. B. in Form von Standards, den Mitarbeitenden nahegebracht werden.
Dabei ist nicht nur das Übermitteln der Standards und der Inhalte wichtig, sondern auch, die Notwendigkeit für die Umsetzung der Standards deutlich zu machen. Mitarbeitende sind eventuell eher bereit Standards umzusetzen, wenn sie die Notwendigkeit verstehen, Zusammenhänge zu anderen Standards erkennen und diese in den Kontext zu Alltagshandlungen im pflegerischen Ablauf setzen können.
Die herkömmlichen Frontalschulungen zur Mittagszeit sind dafür nicht immer das Mittel der Wahl. Fortbildungsangebote neu denken, neue Medien und andere Fortbildungsformen, wie interaktives Lernen, eine „Lernwerkstatt“ oder das „Lerncafé“ sind hier Möglichkeiten, um Fortbildungsinhalte zu vermitteln.
Das Nachhalten von vermittelten fachlichen Inhalten aus Fortbildungen kann sich als Stolperstein bei der Qualitätssicherung herauskristallisieren.
Als große Herausforderung empfinde ich, das Qualitätsmanagement mit all seinen Facetten in die tgl. Arbeit der Mitarbeitenden einzubinden, Qualitätsverständnis zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen und wissenschaftliche Erkenntnisse in den Pflegealltag zu integrieren.
QMP: Inwieweit bilden die Qualitätsprüfungen die Punkte ab, die eigentlich überprüft werden sollten? Hat sich durch die Änderung der Prüfmethodik etwas geändert?
Thiel: Durch die große Anzahl der persönlichen Begleitungen bei Qualitätsprüfungen kann ich für mich persönlich feststellen, dass der Beratungsansatz bei der Qualitätsprüfung deutlich an Stellenwert gewonnen hat. Durch eine Indikatoren-gestützte Qualitätsprüfung, wie sie im stationären Bereich erfolgt, erhalten die Einrichtungen kontinuierlich ein Feedback zur aktuellen Qualität und zu möglichen Qualitätsdefiziten.
QMP: Wie stehen Sie der Digitalisierung in der Pflege gegenüber? Bringen die technischen Neuerungen Erleichterung im Arbeitsalltag oder gestaltet sich die Einführung eher schwierig? Wo sehen Sie die größten Probleme für den Einsatz neuer Methoden und Technologien in der Praxis?
Thiel: Zur Digitalisierung in der Pflege habe ich drei Themenbereiche, welche mich in meiner tgl. Arbeit immer wieder begleiten.
Zum einen ist die Frage der Refinanzierung und der Möglichkeiten zur Förderung ein wichtiger Punkt, der bei der Einführung/Weiterführung der Digitalisierung der Pflege im Unternehmen beachtet werden muss.
Die örtliche IT-Infrastruktur an den Standorten und/oder in der Unternehmenszentrale ist möglicherweise eine große Herausforderung, die wirtschaftlich nicht unterschätzt werden darf.
Der Mitarbeitende am Standort als Nutzer (Endverbraucher) ist derjenige, welcher den eingeschlagenen Weg der Digitalisierung im Arbeitsalltag beschreiten muss. Von der Schulung bis zum Handling liegt der Großteil der effektiven Nutzung der Möglichkeiten aus der Digitalisierung bei den Mitarbeitenden vor Ort.
Die Digitalisierung mit allen Möglichkeiten der Technik und ggf. mit Unterstützung von KI kann den Arbeitsalltag erleichtern und Freiräume schaffen, aber diese Möglichkeiten, neue Technologien und der Einsatz von KI können Mitarbeitende auch verunsichern.
Digitalisierung ist nur so gut und zielführend, wie der Mitarbeitende die gegebenen Möglichkeiten nutzen kann und diese in den Arbeitsalltag als selbstverständlich integriert.
QMP: Wie schätzen Sie die Zukunft der Pflege in Deutschland ein? Welche Perspektiven gibt es?
Thiel: Die „Pflege“ in Deutschland unterscheidet sich in einigen Punkten grundlegend von der Pflegewelt in unseren Nachbarländern.
Was eine der größten Herausforderungen sein wird, ist der demografische Wandel, die Refinanzierung und die künftige Bewohnerstruktur der zu pflegenden Personen. Die generalistische Ausbildung, die Personalbemessung nach § 113, das Pflegeberufegesetz, das Pflegekompetenzgesetz … sind einzelne Puzzleteile, um die neuen Herausforderungen zu meistern.
Es sind bei weitem noch nicht alle Puzzleteile zusammengefügt und wie bei jedem Puzzle, was erstmalig neu zusammengefügt wird, muss auch hier korrigiert und geändert werden, bis zum Schluss das Gesamtbild entstanden ist. Pflege wird sich immer verändern, damit ist auch eine permanente Anpassung nötig. Die „Pflege“ in Deutschland ist kein starres und ewig gültiges System.
QMP: Welche Unterstützung wünschen Sie sich, sowohl vonseiten der Politik als auch seitens der Gesellschaft?
Thiel: Für die Branche und besonders für die Mitarbeitenden, welche direkt mit dem Kunden/Bewohner interagieren, wünsche ich mir mehr Anerkennung und Respekt für die Leistung und die Herausforderungen, welchen sich die Mitarbeitenden jeden Tag aufs Neue stellen.
Von der Politik ist aus meiner Sicht ein deutliches Signal in Richtung Arbeitnehmerüberlassungen/ Personalleasing nötig und mehr als überfällig.
Der Autor
Andreas Thiel
Tätig als Pflegefachkraft, WBL, Qualitätsmanager, Pflegedienstleitung, Einrichtungsleitung, Fachbereichsleiter, Bereichsleitung ZQM und aktuell im operativen Management. Bei verschiedenen Trägern maßgeblich beteiligt in den Projekten zur Umstellung auf EDV gestützte Pflegedokumentation inkl. praktische Umsetzung. In weiteren Projekten aktiv, aktuell Einführung der Personalbemessung nach § 113c und Umstellung von einer Standard-Pflegedokumentation auf eine Pflegedokumentation mit KI gestützter Dienst- und Tourenplanung (als Projektverantwortlicher).